Sonntag, 5. Mai 2013

Rabenbrüder von Ingrid Noll



Dieses Buch war ein schneller Verzweiflungskauf um halb sechs Uhr in der Früh. Kurz vor einer Bahnfahrt habe ich bemerkt, dass ich nichts zum Lesen eingepackt habe und musste dann mit einem Hirn, das allerhöchstens zu einem Drittel hochgefahren war, die schwere Entscheidung eines Buchkaufs bewältigen. Irgendwie konnte ich mich Dunkel erinnern, dass ich schon einmal etwas von Ingrid Noll mit Wohlgefallen gelesen habe und ein Krimi geht in meiner Welt eigentlich immer.




Laut Klappentext wird eine eine dunkle Familiengeschichte versprochen, in den Hauptrollen verträumter Paul, sein Bruder, der junger, lebenslustiger Achim, und ein Totenschmaus.
Es war vor allem die Eifersuchtsbeziehung der beiden Brüder, die mich dazu gebracht hat das Buch dann auch zu kaufen. Nachdem ich selber Geschwister habe, kenne ich das Aschenbrödelsyndrom in diesem Fall sehr gut - wobei ich dabei auch mit dem Finger auf mich selber zeige. Ist es nicht so, dass man selbst die ganze "harte" Arbeit hatte, während die Geschwister auf den Ball gingen? Und wer ist daran Schuld? Natürlich die Eltern, die immer die anderen bevorzugt haben. Ingrid Noll bschreibt die Lächerlichkeit dieses Verhaltens sehr gut und zeigt geschickt, wie peinlich es ist, wenn sich erwachsene Menschen unreflektiert an den angeblichen Fehlern der Eltern schadlos halten.
Leider fällt der Rest der Geschichte dann etwas flach. Die anfangs scheinbar undurchsichtigen (und teilweise recht konstruierten) Verwicklungen werden realtiv rasch aufgelöst, wobei aber die Entwicklung der Charaktere und ihre Beziehung untereinander etwas auf der Strecke bleibt. Eine wichtige Rolle spielt zum Beispiel Pauls Frau, die als extrem unterkühlte und strebsame Karrierefrau (ohne wirkliche Karriere) vorgestellt wird. Die Ehe zwischen beiden scheint distanziert, was vor allem in trauigen und wiederkehrenden Bildern eines aus Brot und Frischkäse bestehenden Abendessens illustriert wird. (Natürlich ist Pauls Geliebte das genaue Gegenteil der erstarrten Frischkäsefrau - sinnlich und schlampig.) Ganz am Anfang der Geschichte entdeckt Pauls Frau seine Affäre. Dieser Umstand bildet eine Art Nebengeschichte zu den sich häufenden Todesfällen, aber entwickelt sich dann auch nicht groß. Irgendwie scheinen die beiden Eheleute dann im Laufe der dramatischen Ereignisse wieder näher aneinander zu rücken, aber was die beiden aneinander bindet bleibt schleierhaft.
Ich persönlich hätte mir auch mehr Hintergrund zu Achim gewünscht und was ihn eigentlich antreibt. Es wird zwar ein dramatisches Ereigniss seiner Kindheit beschrieben und Befürchtungen seiner Mutter werden angedeutet, aber es bleiben doch ein paar Fragezeichen. Wahrscheinlich wäre es für mich da schon einfach gut gewesen, der Mutter etwas mehr Raum und Fleisch zu geben. Mütter sind wichtig und als Anfang und Hauptschuldige aller unserer Vergehen, sollte man sie zumindest genug zu Wort kommen lassen. (Das war jetzt mein Wort zum baldigen Muttertag).

Aber eigentlich laufe ich  hier in die falsche Richtung und bevor ich noch den zu wenig ausführlich beschriebenen Blumentopf auf Seite 38 kritisiere, sollte auf alle Fälle eines gesagt werden: es ist ein gutes Reisebuch. Und weil es überschaubar ist, kann man es leicht in Einzelheiten zerpflücken und das ist wahrscheinlich mehr als unfair. Nachdem ich gerade in einem 1000 Seiten Schmöker feststecke, der ruhig ein paar Seiten verlieren könnte, muss ich Ingrid Noll ein großes Lob für den Mut zur Kürze aussprechen. Es ist warscheinlich oft zu verlockend, sich zu sehr im Detail zu verlieren, anstatt der Leserin etwas eigenen Raum zum Ausfüllen zu geben. Jedenfalls eine Empfehlung für eine Bahnfahrt, aber wahrscheinlich sollte man sich Ingrid Noll besser mit einem anderen Buch annähern.



Ingrid Noll, Rabenbrüder, 2003, Diogenes Verlag

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